User Experience für eine bessere Verkehrsplanung

Was ist eigentlich der Zweck von Verkehrsplanung? Geht es nur darum, die Reisezeit zu optimieren? Oder wollen wir auch das Reiseerlebnis verbessern? Insbesondere, wenn ich mit dem Rad oder zu Fuß unterwegs bin, spielen die sensorischen Eindrücke und die Interaktion mit der Umwelt eine ganz andere Rolle, als wenn ich abgeschirmt in einem Fahrzeug sitze. Stellt euch einmal eine:n Radfahrer:in und eine:n Autofahrer:in vor. Wie viel „Mensch“ ist jeweils in eurem Kopf zu sehen? Das Thema User Experience spielt also insbesondere für diese Verkehrsträger eine ganz wesentliche Rolle. Gerade im Bereich des Fuß- und Radverkehrs sollte besonders viel Wert auf eine nutzer:innenzentrierte Gestaltung gelegt werden.

Was ist User Experience?

User Experience (UX) kennt man in der Regel aus der Softwareentwicklung, wenn es darum geht, Apps oder Websites möglichst nutzer:innenfreundlich zu gestalten. Einige sehen aber den Ursprung der Definition tatsächlich beim römischen Bauingenieur und Architekten Vitruv:

Haec autem ita fieri debent, ut habeatur ratio firmitatis, utilitatis, venustatis.
Diese [Gebäude] aber sollten so entstehen, dass Festigkeit, Nützlichkeit und Schönheit berücksichtigt werden.

De Architectura, Buch 1, Kapitel 3 [1]

In diesem Satz tauchen die Worte „Festigkeit“, „Nützlichkeit“ und „Schönheit“ auf. Ein System muss, wenn es eine gute User Experience garantieren soll, funktionieren (eine Brücke sollte also nicht einstürzen), nützlich sein (die Brücke sollte mich ans das gegenüberliegende Flussufer bringen) und ein System muss schön sein (die Brücke sollte also einigermaßen hübsch anzusehen sein).

In der DIN EN ISO 9241-210 wird User Experience so definiert, dass sie die „Wahrnehmungen und Reaktionen eines Benutzers“ umfasst, als von Gestaltung und Funktionalität beeinflusste Konsequenz. Dementsprechend lässt sich User Experience weiter zerlegen in Gebrauchstauglichkeit (Usability), Ästhetik, Zugänglichkeit und Interaktionsdesign.

Was macht gute User Experience aus?

Grundlegende Prinzipien wurden im Jahr 1995 von Jakob Nielsen formuliert und finden bis heute Anwendung [2]:

  • Bereitstellung von Kontext und Feedback: Ein System muss die Nutzer:in immer über den aktuellen Systemstatus informieren.
  • Gemeinsame Sprache: Ein System muss die Sprache der Nutzer:in sprechen. Das erfordert zwangsläufig eine Berücksichtigung der Zielgruppe.
  • Kontrolle der Nutzer:innen: Die/Der Nutzer:in muss das Gefühl haben, die Kontrolle über das System zu besitzen. Nutzer:innen machen trotzdem Fehler. Das System muss daher immer einen „Notausgang“ bieten und Handlungen „rückgängig“ machen lassen.
  • Wiedererkennung, Konsistenz und Standards: Das System sollte gängigen Standards folgen und Konsistenz bieten (Beispiel S-Bahn- oder U-Bahn-Symbol, Straßenschilder).
  • Fehlervermeidung: Das System sollte so beschaffen sein, dass Nutzer:innen keine Fehler machen.
  • Geringe Informationsbelastung: Die Informationslast sollte durch Sichtbarkeit von Aktionen und Optionen so gering wie möglich gehalten werden.
  • Flexibilität und Anpassbarkeit: Das System sollte verschiedene Zielgruppen berücksichtigen: neue Nutzer:innen genauso wie Expert:innen, die sich schneller im System bewegen können sollten.
  • Ästhetisches und minimalistisches Design: Systeme müssen ästhetisch ansprechend, aber auch effizient gestaltet sein.
  • Hilfe und Dokumentation: Systeme sollten im Optimalfall so gestaltet sein, dass sie ohne Anleitung auskommen. Trotzdem sollte sie vorhanden sein, um die Nutzer:in im Falle des Falls zu unterstützen (z.B. ein Reisezentrum als Anlaufstelle).

Whitney Hess hat diese Prinzipien noch um einige ergänzt [3]:

  • Ablenkung und Hindernisse vermeiden: Nichts soll den Nutzer:innen „im Weg stehen“.
  • Information Scent: Verbindende Botschaften unterstützen die Nutzer:innen, wenn sie sich im System bewegen und vermitteln ihnen das Gefühl, auf dem richtigen Pfad zu sein.
  • Guter erster Eindruck: User Experience wird über die Wahrnehmungen einer Person definiert, also ist auch relevant, was diese Person zuerst wahrnimmt.
  • Angemessener Einsatz von Widerständen, z.B. zur Verkehrsberuhigung. Der Zweck muss jederzeit ersichtlich sein.

In dem Zusammenhang lohnt sich auch ein Blick auf „Emotional Design“, das durch Donald Norman in drei Ebenen definiert wurde und einen entscheidenden Faktor in Bezug auf die Nutzerakzeptanz darstellt [4]:

  • Visceral Design beeinflusst die Wahrnehmung über unsere inneren Organe, besser bekannt als „Bauchgefühl“. Innerhalb weniger Sekunden bilden wir uns instinktiv ein Urteil über unsere Umgebung – etwa über die Aufenthaltsqualität eines Ortes.
  • Behavioural Design beeinflusst die Wahrnehmung, welche auf unseren Erfahrungswerten und bisherigen Erlebnissen beruht. Auf dieser Ebene wird oftmals bewertet, ob ein System seinen Zweck erfüllt.
  • Reflective Design beeinflusst die Wahrnehmung auf Basis unserer Erwartung, Zufriedenheit und Erinnerungen. Auf dieser Ebene treffen wir z.B. Entscheidungen zugunsten des Umweltschutzes.

Und was hat das Ganze jetzt mit Verkehr zu tun?

Nutzer:innen halten sich oft nicht an Vorgaben der Verkehrsplanung. Das kennt sicher jede:r von Trampelpfaden, die sich nach einer Zeit bilden, obwohl sie gar nicht vorgesehen waren. Verkehrsplaner:innen versuchen dabei oftmals durch Umgestaltung das Verhalten der Nutzer:innen zu beeinflussen, damit sie sich an die Planung halten. Warum nicht umgekehrt denken und die Planung an das Verhalten der Nutzer:innen anpassen? Das hat auch Sarah in ihrem Artikel zu nutzer:innenbasiertem Kreuzungsdesign beleuchtet. Stehen alle Verkehrsteilnehmer:innen in Kontakt miteinander, verhalten sie sich rücksichtsvoller und der Verkehrsfluss geht wesentlich flüssiger voran. Persönlich bleibt mir da der ein oder andere Kreisverkehr in Italien in Erinnerung: Weil dort das Gewähren der Vorfahrt „großzügiger“ ausgelegt wird, fahren Autos häufiger in Lücken, obwohl sie ein herannahendes Fahrzeug sehen.

Ein schönes Beispiel ist eine Kreuzung mit hohem Verkehrsaufkommen. Aus „technischer“ Sicht würde man hier vielleicht Lichtsignalanlagen vorschlagen, um die entstehenden Konflikte (besser) zu lösen. Aus anderer Perspektive kann man aber auch den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Den Menschen als handelnde Person und Empfänger und Sender von Informationen. Körpersprache, Sichtkontakt und resultierendes Verhalten spielen da eine wesentliche Rolle [5]. Diese Gedanken sollten bei einer nutzer:innenzentrierten Verkehrsplanung unbedingt beachtet werden. Ein Beispiel für ein Stadtentwicklungsprojekt mit Fokus auf User Experience stellen auch die Superblocks in Barcelona dar.

Kreuzung mit suboptimaler User Experience in Paris
An dieser Kreuzung ist die User Experience nicht optimal: Nicht jeder Verkehrsteilnehmer wird das Gefühl haben, die Kontrolle über die Situation zu haben, Autos und Radfahrer:innen stehen sich wortwörtlich im Weg und wissen nicht, wie es weiter geht – der Kontext ist in diesem Moment nicht gegeben. Das Risiko, dass Nutzer:innen einen Fehler machen, also andere Verkehrsteilnehmer:innen beeinträchtigen oder sogar gefährden, ist vergleichsweise hoch. Und dieses Beispiel ist auch nicht mit den Kreisverkehren in Italien vergleichbar, da der Verkehr nicht fließt, sondern (kurz) zum Stillstand kommt.
Autobahn-Wegweiser in den Niederlanden
Einige UX-Prinzipien lassen sich auf diesem Bild beobachten: Wiedererkennung, Konsistenz und Standards werden durch Beschilderung und Fahrbahnmarkierung gewährleistet. Anders als auf dem vorherigen Bild fließt der Verkehr in geordneten Bahnen und die Fahrer:innen haben die Kontrolle über die Situation.
Beispiel einer guten Kreuzung für den Radverkehr
Das gilt auch an dieser Kreuzung für Radfahrer:innen. Durch den unabhängigen Radweg gibt es kaum Hindernisse, die Wegweisung folgt gängigen Standards und bietet den Nutzer:innen bei Bedarf Hilfe und Feedback bei ihrer Orientierung. Die Verkehrsinsel ist ein Beispiel für einen geeigneten Einsatz eines „Widerstands“, der nicht im Weg steht, sondern die gegenläufigen Verkehrsströme voneinander trennt und auf die Kreuzung aufmerksam macht.
Anders als in diesem Beispiel, auch wenn es sich nur um eine temporäre Maßnahme handelte: Radfahrende müssen sich entscheiden, ob sie im Autoverkehr mitschwimmen oder auf den Gehweg ausweichen, und fühlen sich aufgrund des niedrigen Information Scent ggf. hilflos. Beide Varianten stellen jedoch ein Hindernis dar, das die Fahrt und auch die anzustrebende Fehlervermeidung wesentlich erschwert. Die Baustelleneinrichtung ist autozentriert und nicht auf die Zielgruppe von Radfahrenden, womöglich auch noch unerfahrene, ausgerichtet.
Klare Wegeführung in einem Fahrradparkhaus
Aber UX findet nicht nur im Straßenraum Anwendung, sondern kann auch eine Rolle z.B. in Fahrradabstellanlagen spielen. Minimalistisches Design trägt zur Übersichtlichkeit bei und reduziert die Informationsbelastung, die zentralen „Fahrwege“ heben sich durch andere Färbung des Bodenbelags von den übrigen Flächen ab und erlauben eine einfache Navigation durch die Anlage. Die Beschilderung folgt den Standards von Wegweisung an niederländischen Bahnhöfen (zu Wegweisung siehe auch Beschilderung und Fahrgastinformation zwischen Identität und Effektivität).

Welche Methoden gibt es, um nutzer:innenzentrierte Verkehrsplanung durchzuführen?

Jede einzelne Methode vorzustellen, würde sicherlich den Rahmen sprengen, aber dennoch schadet es nicht, ein paar solcher Methoden für den Arbeitsalltag im Hinterkopf zu behalten.

Think-Aloud-Protokoll

Vorbereitend wird eine Route, sei es eine konkrete Wegeführung oder ein Workflow in einem System, definiert. Anschließend wird eine Person ausgewählt, die die Route abfährt (oder gedanklich nachspielt) und alle Gedanken laut ausspricht. Diese werden notiert und anschließend analysiert.

Personas

Gewissermaßen in eine ähnliche Richtung stößt das Anlegen von Personas. Dabei wird die Verhaltenscharakteristik einer bestimmten Personengruppe erfasst und mit Emotionen verknüpft. Daraus lassen sich Planungsziele bzw. Anforderungen ableiten.

Customer Journey Mapping

Gewissermaßen aufbauend auf die beiden anderen Methoden ermöglicht das Customer Journey Mapping die Erfassung von Anforderungen oder Emotionen. Dazu wird die „Reise einer Nutzer:in“ in einzelne Schritte zerlegt. Ein Beispiel für die Anwendung dieser Methode hatte ich im Artikel zu Mobility Hubs vorgestellt.

User Testing

Die vielleicht wichtigste Methode ist das User Testing, bei dem mögliche Endnutzer:innen unmittelbar einbezogen werden. Als Verkehrsplaner:in kann man nur schwer die tatsächlicher Perspektive dieser einnehmen, da man am Entstehungsprozess einer Infrastruktur oder eines Systems beteiligt ist und niemals einen „ersten Eindruck“ bekommen kann. Wichtig ist dabei, eine repräsentative Stichprobe von Tester:innen zu beteiligen (vgl. Personas), klar zu definieren, was zu testen ist und während des Tests im Hintergrund zu bleiben und die Eindrücke der Tester:innen zu sammeln (vgl. Think-Aloud-Protokoll).

Service Design Thinking

Hierbei wird während einer Planung zunächst in einen Problemraum (Wird die richtige Sache entworfen?) und einen Lösungsraum (Wird die Sache richtig entworfen?) unterschieden (double diamond phases). Der Bezug auf das eigentliche Problem fehlt oftmals, weswegen eine iterative Rückkopplung zwischen den beiden Räumen wichtig ist. Der Problemraum muss (unter Einbezug der UX-Kriterien sowie Nutzer:innen!) erkundet und definiert werden, sodass klar ist, wer (Nutzer:in oder Kunde) die Lösung für was (Problem) und warum (Notwendigkeit) braucht. Anschließend kann der Lösungsraum entwickelt werden.

EIn fiktives Beispiel: Mittels User Testing oder Customer Journey Mapping werden z. B. Schwachstellen in der Radverkehrsinfrastruktur aufgedeckt und daraus Anforderungen abgeleitet, wie etwa eine sichere, schnelle und bequeme Fortbewegung. Nach Definition von Problemen und Ziel können zielgerichtet Lösungen entwickelt werden: DIe Infrastruktur muss sicher sein, was beispielhaft durch einen baulich getrennten Radweg erreicht wird. Dafür ist es notwendig, den Straßenraum neu aufzuteilen. Zuletzt ist zu prüfen, ob mit der entwickelten Lösung die anfangs aufgedeckten Probleme auch behoben und Anforderungen erfüllt werden.

System Design Engineering

Dieser interdisziplinäre Ansatz stammt aus der Entwicklung komplexer Systeme in Großprojekten. Dabei werden bei der Aufstellung des Problemraums die Nutzer:innenanforderungen analysiert (Was möchte der/die Nutzer:in?) und in den Lösungsraum überführt. Dazu werden zuerst funktionale Anforderungen abgeleitet (Was muss das System erfüllen?) und aus dieser eine funktionale Systemarchitektur erstellt (Wie erfüllt das System die Anforderungen?). Anschließend folgt die Entwicklung einer physischen Systemarchitektur (Wie wird die funktionale Systemarchitektur implementiert?) und nach Implementierung die Validierung mit den Nutzeranforderungen.

Fazit

Nachstehende Abbildung fasst die Methodik für eine nutzer:innenzentrierte Verkehrsplanung zusammen und gibt dabei auch zwei stark vereinfachte Beispiele aus der Radverkehrsplanung und App-Entwicklung wieder.

Nutzer:innenzentrierte Verkehrsplanung basierend auf Service Design und System Design Engineering

Spannend an User Experience ist, dass es nahezu alle Bereiche in der Verkehrsplanung betrifft und die Methodik in unserer Tätigkeit als Verkehrsingenieur:in universell angewendet werden kann, egal ob in der Stadtraumgestaltung, Straßenplanung oder IT-Entwicklung. Es gibt immer ein Problem, das gelöst werden möchte. Wichtig ist aber auch, den Bezug zum Problem zu kennen. Ingenieur:innen und Planer:innen sollten deshalb viel öfter draußen sein und einerseits das wahrnehmen, was andere geplant haben, um daran zu lernen – andererseits aber auch, um ein umfassendes Verständnis von der zu planenden Sache zu entwickeln, was alleine durch Lesen von Plänen oder Theorie oftmals schwierig ist. Kreativität entsteht nicht nur am Schreibtisch.

Quellen:
[1] https://la.wikisource.org/wiki/De_architectura/Liber_I#Caput_Tertium
[2] https://media.nngroup.com/media/articles/attachments/Heuristic_Summary1-compressed.pdf
[3] https://www.youtube.com/watch?v=94HOViTj4iA
[4] https://designbote.com/was-ist-emotional-design/
[5] https://urbanmobilitycourses.eu/courses/user-experience-for-mobility-and-public-space/