Im September 2024 wurde in der Stadt Aachen der erste sogenannte Lenkungspunkt im Rahmen des Gesamtkonzeptes „Innenstadtmobilität für morgen“ umgesetzt. Ziel ist eine stadtverträgliche Gestaltung des Verkehrs, bei welcher die Aachener Innenstadt in Zonen eingeteilt wird. Die Zufahrt für den Kfz-Verkehr zu jeder Zone soll vor allem über den Alleenring erfolgen, während der innere Grabenring zum Verteilerring für Radverkehr und ÖPNV wird.
Das führt dazu, dass der Grabenring und damit die Verkehrsbeziehung Karlsgraben – Löhergraben für den Radverkehr und ÖPNV bestehen bleibt, während der Kfz-Durchgangsverkehr hier unterbunden werden soll. Während solche Durchfahrtsverbote an anderer Stelle z.B. durch Poller umgesetzt werden können, muss hier eine andere Lösung gefunden werden, um den ÖPNV nicht ebenfalls einzuschränken. Daher erfolgte die Umsetzung des Lenkungspunktes mittels Markierungs- und Beschilderungsmaßnahmen.
Beschreibung der Verkehrssituation
Für den Kfz-Verkehr gilt: Nicht mehr alle Abbiegerelationen im Knotenpunkt Karlsgraben / Löhergraben / Jakobstraße sind möglich. Nur noch folgende Fahrtmöglichkeiten verbleiben:
- Vom Löhergraben kommend darf der Kfz-Verkehr an der Jakobstraße nur noch nach links abbiegen.
- Vom Karlsgraben kommend darf der Kfz-Verkehr an der Jakobstraße nur noch nach rechts abbiegen.
- Im ursprünglichen Konzept ist/war zudem vorgesehen, dass aus der Jakobstraße ausschließlich geradeaus in Richtung Schanz gefahren oder nach rechts auf den Karlsgraben abgebogen werden darf. Tatsächlich ist vor Ort nicht beschildert, dass Linksabbiegen nicht erlaubt sei. Insofern kann hier den Linksabbiegenden kein Fehlverhalten unterstellt werden.
Da die Maßnahme nur mittels Markierung und Beschilderung umgesetzt wurde, ist es fraglich, ob der Lenkungspunkt als solcher funktioniert. Insbesondere die Art der Beschilderung scheint nicht intuitiv, auch wenn sie korrekt ist. Auf einen Hinweis des Abbiegegebots für Kfz mittels blauem Pfeil wurde verzichtet, der Fahrstreifen für die nicht zulässigen Fahrtmöglichkeiten ist lediglich als Radfahrstreifen beschildert.
Ergebnisse der Verkehrszählung
Um einen Eindruck zu erhalten, ob die neue Regelung am Lenkungspunkt eindeutig verstanden und auch eingehalten wird, haben wir am Mittwoch, den 16. Oktober 2024 zwischen 17 und 18 Uhr zur Abendspitzenstunde eine Verkehrserhebung durchgeführt.
Dabei haben wir an den beiden Knotenpunktarmen Löhergraben (1) und Karlsgraben (2) jeweils die „richtig“ und „falsch“ fahrenden Kfz gezählt. Zusätzlich haben wir die Anzahl der Radfahrenden zwischen 17.30 und 18 Uhr an zwei Messquerschnitten (A, B) erfasst.
Vom Karlsgraben darf nur noch rechts in die Jakobstraße abgebogen werden. Die Rechtsabbiegenden wurden daher als „richtig“ fahrende Kfz eingestuft. Die Kfz, welche geradeaus oder links gefahren sind, wurden als „falsch“ eingestuft.
Aus Richtung Löhergraben gilt die gleiche Regelung spiegelverkehrt: Alle Kfz müssen links in die Jakobstraße abbiegen („richtig“). Fuhren Kfz geradeaus oder rechts, wurden sie als „falsch“ eingestuft. In der folgenden Abbildung sind die Ergebnisse der einstündigen Verkehrserhebung dargestellt:
Es zeigte sich, dass in der abendlichen Spitzenstunde mehr Kfz regelwidrig den Knotenpunkt passiert haben als regelkonform. Vom Alexianergraben/Löhergraben kommend hielten sich 48 % der Kfz nicht an die vorgeschriebene Verkehrsführung, aus Richtung Karlsgraben waren es sogar 73 %.
Weitere Beobachtungen während der Erhebung
Zudem wurden folgende Beobachtungen gemacht:
Fuhr ein Kfz „falsch“, schlossen sich meist mehrere Kfz an. Hier besteht die Vermutung, dass es sich um einen Nachahmungseffekt handelt. Fährt die Person vor mir falsch, dann kann / „darf“ ich das auch.
Ca. fünfzehnmal innerhalb der Stunde wurde beobachtet, dass sich Kfz-Fahrende, welche sich am Löhergraben korrekt auf dem Linksabbiegestreifen aufgestellt hatten, nach kurzer Zeit doch nach rechts ausgeschert sind und regelwidrig geradeaus / rechts gefahren sind. Dies kann u.a. auf die Verzögerungen beim Abfluss des Linksabbiegens zurückgeführt werden. Zwar flossen alle Linksabbieger ab (kein Rückstau, auch wegen Nachlauf mit Linksabbiegepfeil), jedoch dauerte der Abbiegevorgang länger, da die entgegenkommenden Fahrräder sowie die aus dem Karlsgraben rechts abbiegenden Kfz Vorrang haben. Hier ist ggf. mit einer Anpassung der LSA-Steuerung Abhilfe zu schaffen.
Einmal befand sich ein Kfz auf dem roten Radfahrstreifen am Löhergraben und hielt dort. Es war ersichtlich, dass dem Fahrer oder der Fahrerin unklar war, ob er/sie richtig fuhr. Leider befindet sich die Beschilderung, die auf den Radfahrstreifen (und damit indirekt auf das Abbiegegebot nach links hinweist) nur vor dem Knotenpunkt und nicht mehr ein weiteres Mal auf Höhe der LSA. So war dem Fahrer bzw. der Fahrerin nicht mehr möglich nachzuvollziehen, welche Verkehrsfläche genutzt werden darf.
Durch die vielen falsch fahrenden Verkehrsteilnehmenden im Bereich Löhergraben, welche auf dem Radfahrstreifen stehen, wird der Raum für Radfahrende stark eingeengt. Es kam wiederholt zu kritischen Überholsituationen, bei denen Radfahrende z. B. mit einem zu geringen Abstand von weniger als 1,50 m überholt wurden. Es konnte zudem beobachtet werden, dass Radfahrende vermehrt den Gehweg in Richtung Jakobstraße nutzen, um Konflikte durch falsch fahrende Kfz zu vermeiden.
Die beschilderten Parkplätze für Lastenfahrräder sind nicht belegt gewesen.
Aus Richtung Löhergraben befindet sich das Verkehrszeichen für den Radfahrstreifen relativ weit vor dem Knotenpunkt und auch teils verdeckt hinter einem Baum, sodass es nicht gut zu sehen ist.
Grundsätzlich lässt sich durch die Erhebung beobachten, dass die Markierung und Beschilderung des Lenkungspunktes zwar verkehrsrechtlich korrekt, aber den meisten Verkehrsteilnehmenden unverständlich ist. Statt, wie sonst üblich zur Verdeutlichung der erlaubten Fahrtrichtung mit dem Verkehrszeichen 209 (“Blauer Pfeil”) zur Anzeige eines Links- oder Rechtsabbiegegebotes, wird für den Fahrstreifen zum geradeaus oder rechts fahren (bzw. links vom Karlsgraben kommend), ein Radfahrstreifen ausgewiesen. Hier müssen Kfz-Fahrende den Transfer leisten, dass Radfahrstreifen mit dem Kfz grundsätzlich nicht befahren werden dürfen und das deswegen nur das Fahren über den Abbiegestreifen in Frage kommt. Dass dieser Transfer nicht stattfindet, zeigt sich an den erhobenen Daten.
Statt der Vorgabe, dass der Kfz-Verkehr abbiegen muss (links), werden die Fahrstreifen am Lenkungspunkt geradeaus nur als Radfahrstreifen (rechts) beschildert.
Ebenfalls irritierend sind die markierten Richtungspfeile auf der Fahrbahn. Durch die großen Geradeauspfeile wirken die Fahrstreifen weiterhin wie Fahrstreifen für den Kfz-Verkehr.
Lösungsvorschlag und Empfehlung
Wir empfehlen eine Überarbeitung des Beschilderungskonzepts und ggf. der Lichtsignalanlage (Ampel). Dies umfasst zum einen die Vorankündigung der neuen Verkehrsführung mittels Planskizze in ausreichend Abstand zur Kreuzung, damit Ortsunkundige die Verkehrssituation sowie die Ausnahmeregelungen erfassen können.
Im unmittelbaren Kreuzungsbereich sollte geprüft werden, ob das Verkehrszeichen 209-10 „Vorgeschriebene Fahrtrichtung – links“ mit entsprechenden Zusatzzeichen ergänzt werden, um eindeutiger zu vermitteln, dass für Kfz das Linksabbiegegebot gilt. Die Beschilderung des Radfahrstreifens muss bestehen bleiben.
Aufgefallen ist auch, dass die eher unübliche Bezeichnung “Linienfahrzeuge” und “Lieferfahrzeuge” anstelle von “Linienverkehr” und “Lieferverkehr” für die Zusatzzeichen mit den Ausnahmen gewählt wurde.
Es sollte spätestens mit der Inbetriebnahme weiterer Lenkungspunkte geprüft werden, ob eine bessere Lenkung auf dem Alleenring erfolgen kann (analog zu Parkleitsystemen), um zu vermeiden, dass der Kfz-Verkehr „zu früh“ auf den Grabenring gelangt und das Ziel nicht erreichen kann.
Zusätzlich wäre denkbar, den Signalzeitenplan der Lichtsignalanlage am Lenkungspunkt zu ändern und den Linksabbiegenden- und Geradeausverkehr zeitversetzt zu signalisieren. Es wäre zu prüfen, ob z.B. für den Radfahrstreifen eine ÖPNV-Ampel in Kombination mit einer Radfahrampel zu realisieren wäre. Hierbei ist jedoch eine Freigabe für Lieferverkehre voraussichtlich nicht möglich. Der Vorteil einer solchen Lösung wäre, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Kfz über eine grüne Radfahrampel oder eine „grüne“ Bus-Ampel fahren, geringer ist, als wenn „grün“ für alle Fahrzeuge gilt.
Erfolgt die Kfz-Navigation mit Google Maps, ist die geänderte Verkehrsführung dort bereits hinterlegt.
Neben der Anzahl der Kfz haben wir zwischen 17:30 und 18:00 Uhr auch die Anzahl der Radfahrenden in den Querschnitten Löhergraben und Karlsgraben gezählt. Die Hochrechnung auf eine Stunde ergibt einen Wert von 400 Radfahrenden / Stunde. Auch während der Erhebung fiel auf, dass der Grabenring von vielen Radfahrenden befahren wird. Die Entwicklung des Grabenrings zum Radverteilerring scheint daher sehr sinnvoll. Um den Radverkehr bzw. aktive Mobilitätsformen weiter zu stärken, ist es durchaus sinnvoll, den Alleenring als Verteilerring für den Kfz-Verkehr zu nutzen und Lenkungspunkte vorzusehen. An der Umsetzung (am Knotenpunkt Karlsgraben/Löhnergraben/Jakobstraße) hapert es noch. Dies sollte spätestens zur Einrichtung der weiteren Lenkungspunkte, z.B. am Seilgraben, optimiert werden. Ob ein Lenkungspunkt an einem Knotenpunkt tatsächlich erforderlich ist, sollte angesichts der Sperrungen in unmittelbarer Nähe (z.B. am Templergraben) ggf. evaluiert werden.
Hinweis: Da unsere Erhebung Mitte Oktober stattgefunden hat, ist die Stellungnahme der Stadt Aachen vom 30.10. hier nicht berücksichtigt.
Offizielle Information der Stadt Aachen zum Lenkungspunkt Karlsgraben
Best Practices aus Mobilität und Verkehr zeigen wir auch auf unserer Karte.