Wenn man an nachhaltige Mobilität denkt, kommt einem meistens das Fahrrad in den Sinn. Verbesserungen in der Radverkehrsinfrastruktur behandeln wir auch ausführlich an anderer Stelle. Was aber ist mit größeren Distanzen? Welche Verkehrsmittel können zukünftig führend sein? Wie können Hochgeschwindigkeitszüge Kurzstreckenflüge substituieren? Und wie lässt sich der Luftverkehr effizient mit anderen Verkehrsträgern verknüpfen?
Schauen wir uns zuerst einmal drei Faktoren an, die unsere Verkehrsmittelwahl beeinflussen:
Faktor #1: Die Reisezeit
Physische Restriktionen sind ganz klar die Grenzen unserer Kontinente. Auf Interkontinentalreisen wird das Flugzeug auch weiterhin gesetzt sein. Generell sollten wir aber auch Reisezeit mehr wertschätzen – Mobilität und das Kommen von A nach B „kostet“ nun einmal Zeit. Gleichzeitig sollte diese Zeit aber sinnvoll genutzt werden können, womit wir bei Faktor #2 wären:
Faktor #2: Der Reisekomfort
Wenn ich im eigenen Auto sitze, habe ich keine unangenehmen Mitreisenden und kann die Musik laut aufdrehen. Umgekehrt bin ich als Fahrer natürlich auf die Fahrt fokussiert. Das Auto ist auch (zumindest noch) vorteilhaft bei Familienreisen, Reisen mit viel Gepäck oder falls am Zielort Flexibilität gewünscht ist. Umgekehrt kann eine Autofahrt aber auch wesentlich mehr Stress bedeuten, wohingegen ein Bahnreise (wenn alles gut geht) ein entspanntes Ankommen ermöglicht.
Faktor #3: Die Zugangshürden
Wenn ich öffentliche Verkehrsmittel nutze, nehme ich unter Umständen einige Nachteile in Kauf: Ich kann nur so viel Gepäck transportieren, wie ich selbst tragen kann. Ein Vollmachen des Kofferraums geht nicht. Ich muss dieses Gepäck zum Bahnhof oder Flughafen befördern. Während der Reise nehme ich Komforteinbußen und geringere Individualität hin. Und letztlich muss ich mich mit verschiedensten Tarifen und Buchungsmöglichkeiten auseinandersetzen und habe in den meisten Fällen nicht einmal die Möglichkeit, eine Fahrkarte für die gesamte Reisekette von Tür zu Tür zu buchen.
Folgende Tabelle fasst einige Entscheidungskriterien für die Verkehrsmittelwahl für drei Reisenden-Typen zusammen:
Geschäftsreisende:r | Urlaubsreisende:r | Familien | |
---|---|---|---|
Gepäck | reist i.d.R. nur mit Handgepäck | Hat viel Gepäck dabei, möchte ggf. Souvenirs/Einkäufe transportieren, hat ggf. Sperrgepäck dabei (kann aber auch im Flugzeug auftreten) | Viel Gepäck |
Preis | Spielt kaum eine Rolle | Preisbewusst | Preisbewusst, da viele Personen |
Durchbuchbarkeit (Verantwortung im Störungsfall) | Muss Termine erreichen | Wichtig, möchte Stress auf alle Fälle vermeiden | Wichtig, Stranden mit Kindern auf alle Fälle vermeiden |
Komfort | Wichtig, Reisezeit als Arbeitszeit nutzen | Wichtig, Reise als Erlebnis | Zweckmäßig, angenehme Reise für Eltern und Kinder |
Individualität (Reiseroute) | Weniger wichtig, da festgelegte Route | Wichtig, am Reiseziel bzw. auf dem Weg mehr Flexibilität | Wichtig, da spontan „Planänderungen“ auftreten können |
Flexibilität (Reisezeitraum) | Gering, Termine müssen erreicht werden | Gering, da Hotels gebucht sind | Gering, da an Ferienzeiten gebunden |
Fünf Ideen für einen attraktiven Fernverkehr
Idee #1: Hub-Konzept umsetzen
Wir brauchen schnelle Punkt-zu-Punkt-Verbindungen auf Relationen mit entsprechender Nachfrage. Gleichzeitig darf es keine „Bummel-ICE“ mehr geben, in denen ein Großteil der Reisenden unter einer längeren Reisezeit leidet. Vielmehr sollte es schnelle Verbindungen zwischen großen Zentren geben, von denen aus die Verteilung in die Fläche erfolgt. Auch der Luftverkehr muss in ein solches Hub-Konzept eingebunden werden. Dafür sind entsprechende Standards und Schnittstellen zu schaffen, die eine verkehrsträgerübergreifende Verkehrssteuerung möglich machen.
Ein solches Hub-Konzept würde sich zudem positiv auf den Hochgeschwindigkeitsverkehr nach London auswirken. Statt das komplizierte Check-in-Prozedere für wenige Züge pro Tag europaweit auszurollen, wäre es viel sinnvoller, Zubringerzüge bis an den Eurotunnel zu verlagern und von dort einen Pendelverkehr zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich anzubieten. Sind Mobility Hubs erst einmal ausgerollt, lassen sich auch verspätungsanfällige Langläufer (Züge mit langem Laufweg) im Tagesverkehr vermeiden und durch einen dichten Takt auf den Hauptachsen und smarte Umsteigevorgänge ersetzen.
Ein Hub verknüpft dabei immer mindestens zwei verschiedene Verkehrsträger. Herausforderung dabei ist es, alle beteiligten Stakeholder mitzunehmen: jedes Verkehrsunternehmen möchte in erster Linie seinen eigenen Marktanteil steigern und hat primär wenig Interesse daran, Kunden an die „Konkurrenz“ zu verlieren. Allerdings unterstellt das Hub-Konzept, dass es für jede Relation (siehe auch Idee #5) einen geeigneten Verkehrsträger gibt, sodass die vermeintlich konkurrierenden Verkehrsträger als Zubringer dienen. So können Verkehrsunternehmen voneinander profitieren und das Reiseerlebnis nachhaltig verbessern, insbesondere, wenn Ankünfte und Abfahrten bzw. Abflüge koordiniert werden und Umsteigevorgänge reibungslos ablaufen. An dieser Stelle spielt die Gestaltung der Hubs eine wesentliche Rolle. Auch hier sind jedoch wieder verschiedenste Akteure wie Infrastruktur- und Flughafenbetreiber oder Kommunen involviert.
Wie Mobility Hubs gut gestaltet werden können, wurde bereits in einem anderen Artikel ausführlich behandelt.
Idee #2: Europaweite Mobilitätsdatenbank
Die Schnittstelle zum Fahrgast ist dabei ein wesentlicher Aspekt. Es braucht Tickets mit Garantie, dass man auch am Zielort ankommt (notfalls mit Übernachtung). Und es braucht überhaupt eine transparente und einfache Buchungsmöglichkeit für internationale und verkehrsträgerübergreifende Reisen. Der Kunde soll vom Wettbewerb profitieren, darf ihn aber niemals „ausbaden“, wie es derzeit der Fall ist: Mit einer DB-Fahrkarte in den Thalys, die Westbahn oder den Flixtrain einsteigen geht nicht. Gleichwertige (!) Fahrkarten müssen gegenseitig anerkannt werden, die Rahmenbedingungen dafür sind von der Politik zu setzen.
Mobilitätsapps schießen wie Unkraut aus dem Boden. Jeder Verkehrsverbund und jedes Verkehrsunternehmen braucht eine eigene Lösung, sodass selbst Branchenkenner nicht mehr durchblicken. Das sorgt für Frust, erst recht, wenn jede Applikation Fahrkarten zu einem anderen Preis anbietet. Idee ist der Aufbau einer europaweiten Mobilitätsdatenbank mit Fahrplandaten, Tarifinformationen und Informationen zu aktuellen Betriebslage. Diese Datenbank wird mit Informationen aller Verkehrsunternehmen von Fluggesellschaften bis Sharing-Anbietern gespeist. Dabei ist durch rechtliche Rahmenbedingungen gewährleistet, dass dies auch erfolgt. Über eine diskriminierungsfrei zur Verfügung gestellte Schnittstelle erfolgt der Übergang in den Wettbewerb, sodass verschiedene Anbieter Apps zur Verfügung stellen können, über die Reisende aber immer dieselben Informationen und Tickets erhalten.
Idee #3: Komfortzonen in Reisezügen
Um die Attraktivität gegenüber dem Individualverkehr zu erhöhen, ist die heutige Innenraumgestaltung der Züge zu überdenken. Vielleicht ist es an der Zeit, die klassische Klassenaufteilung völlig zu überdenken und sich von dem Konzept zu lösen, die Ansprüche aller Reisenden im Durchschnitt zu erfüllen, sondern stattdessen die Bedürfnisse der Reisenden zielgerichtet bestmöglich zu erfüllen. Idee könnte ein Zonenkonzept sein, wie es in der nachfolgenden Abbildung dargestellt ist.
Schwierig ist dabei, eine Buchung unter Berücksichtigung der Auslastung zu ermöglichen (und dann auch tatsächlich Sitzplätze im gebuchten Bereich verfügbar zu haben), ohne eine Reservierungspflicht einzuführen. Diese würde ein wesentliches, wenn nicht sogar eines der wichtigsten Merkmale der Bahn konterkarieren, nämlich die Möglichkeit zu haben, flexibel jeden Zug nutzen zu können (fast wie beim Auto). Aber auch hier gibt es (technische) Möglichkeiten, die eine Reservierung flexibel möglich machen können, ohne die Flexibilität zu verlieren. Es ist auf alle Fälle zu vermeiden, dass Reisende stehen gelassen werden, wie es heute beispielsweise im internationalen Verkehr zwischen Deutschland und Frankreich passiert, insbesondere, wenn Fahrgäste spontan den ICE oder TGV nutzen möchten.
Idee #4: Nachtreiseverkehr stärken
Während die Bereitschaft im Tagesverkehr mit zunehmender Reisedauer abnimmt, weite Distanzen mit Bahn oder Bus zurückzulegen, sieht das im Nachtreiseverkehr anders aus. Heute verbummeln Nachtzüge oftmals Zeit, um nicht zu früh am Zielort zu sein, da viele Relationen bedient werden, die auch schon im Tagesverkehr mit akzeptabler Reisezeit erreicht werden können. Denkbar wäre so neben dem „normalen“ Nachtzugnetz über mittlere Distanzen auch ein Hochgeschwindigkeitsnetz von Nachtzügen, das Kurzstreckenflüge ersetzt. So könnten Relationen wie Berlin – Rom, Budapest – Paris, Stockholm – Amsterdam oder Frankfurt – Sevilla im Nachtsprung überbrückt werden. Nachfolgende Abbildung zeigt exemplarisch einige Ideen für solche Relationen auf:
Schon heute kann für die knapp 2.500 km von Frankfurt nach Sevilla eine reine Reisezeit mit der Bahn von 16 Stunden erreicht werden. Bei Abfahrt um 19 Uhr in Frankfurt bzw. 23.30 Uhr in Paris wäre man am nächsten Morgen um 6 Uhr in Barcelona, um 8.30 Uhr in der spanischen Hauptstadt oder um 11 Uhr im südspanischen Sevilla. Dass dafür noch einige Hindernisse „von der Strecke“ zu räumen sind, dürfte die wenigsten wundern: Immerhin müsste dafür das Netz von vier Eisenbahninfrastrukturunternehmen befahren werden, Fahrzeuge beschafft werden, die unter den verschiedenen Stromsystemen und auf den Hochgeschwindigkeitsstrecken aller vier Länder verkehren können und passende Trassen im Fahrplangefüge gefunden werden. Die Fahrzeuge sollten verschiedene Komfortklassen bieten: neben herkömmlichen Sitzplätzen für Kurzstreckenreisende oder Fahrgäste mit geringen Ansprüchen, Schlafkabinen und Liegeabteilen für Gruppen oder Familien auch solche Liegewagen, die ein Mindestmaß an Privatsphäre auch für Alleinreisende oder Paare bieten, die kein eigenes Schlafabteil buchen möchten. Die ÖBB führen derartige Mini-Abteile übrigens mit ihrer neuen Nightjet-Generation ein [1].
Denkbar wäre zudem ein Flügelzugkonzept bestehend aus zwei Zugteilen mit je acht Wagen, mit denen je nach Nachfrage zwei verschiedene Destinationen (z.B. Sevilla – Amsterdam und Sevilla – Frankfurt) bedient werden können. Eine mögliche Wagenreihung ist in nachfolgender Abbildung dargestellt:
Ein Problem an Nachtzügen ist auch immer, dass die Züge eben nur nachts fahren und tagsüber aufgrund ihrer Ausstattung keinen Verwendungszweck finden. Und ein stehender Zug verdient wie ein Flieger am Boden kein Geld. Damit besteht die Gefahr, dass aufgrund der erforderlichen Investitionen die Tickets für Reisende unerschwinglich werden können. Letztlich gilt aber, Mobilität darf ruhig etwas kosten. Wenn wir aber Leute aus dem Billigflieger in den Zug holen wollen, brauchen wir in erster Linie ein konkurrenzfähiges Angebot, das in zweiter Linie auch finanziell gegenüber dem Flugzeug konkurrenzfähig ist.
Idee #5: Individuelle Lösungen für Reiseziele
Es ergibt natürlich überhaupt keinen Sinn, überall Hochgeschwindigkeitsstrecken zu trassieren, sowohl aus finanzieller Sicht als auch aus der Nachhaltigkeitsperspektive. Schließlich wird dabei nicht gerade wenig in die Umwelt eingegriffen. Insofern gilt es auch an dieser Stelle, immer verkehrsträgerübergreifend zu denken. Für einige Reiseziele, die aus unterschiedlichen Gründen eine gute Straßenanbindung aufweisen, eignet sich der Fernbus besser, für einige Ziele kann sogar emissionsarmer Luftverkehr mit kleineren Flugzeugen das Verkehrsmittel der Wahl sein. Wichtig ist, dass Reisende diese Verkehrsmittel auch einfach nutzen können, überhaupt über Möglichkeiten Bescheid wissen und eine Fahrkarte von Tür zu Tür buchen können.
Die Süddeutsche Zeitung hat recherchiert, dass sich schon heute rund 11.000 Inlandsflüge mit Bahnreisen unter 2,5 Stunden und 73.000 Inlandsflüge mit Bahnreisen unter vier Stunden ersetzen lassen [2].
Zum Weiterlesen: Eine interaktive Grafik rund um das Thema Substitution von Kurzstreckenflügen bietet übrigens die österreichische Zeitung Standard: Interaktiv: Diese Kurzstreckenflüge haben eine gute Alternative auf der Schiene – Europas Zukunft – derStandard.at › International
Viele Strecken im Fernverkehr werden heute mit dem eigenen Auto statt im öffentlichen Verkehr zurückgelegt. Aus den drei Faktoren Reisezeit, Reisekomfort und Zugangshürden lassen sich fünf Ideen ableiten, wie der (öffentliche) Fernverkehr attraktiver gestaltet werden kann. Kernaspekt dabei ist, verkehrsträgerübergreifend zu denken: Es gibt nicht „den“ Verkehrsträger der Zukunft. Aber für jedes Reiseziel bzw. jede Relation gibt es einen Verkehrsträger, der sich am besten eignet. Die Reisenden müssen darüber aber auch informiert werden, Tickets von Tür zu Tür buchen können und Zugang dazu haben, etwa über entsprechende Hubs.
Quellen:
[1] ÖBB Personenverkehr AG: Nightjet der neuen Generation. https://www.nightjet.com/de/komfortkategorien/nightjet-neue-generation, zuletzt abgerufen am 11.07.2022.
[2] Business Insider: Verbote von Kurzstreckenflügen: Was sie wirklich bringen würden. https://www.businessinsider.de/wirtschaft/verbote-von-kurzstreckenfluegen-was-sie-wirklich-bringen-wuerden/, zuletzt abgerufen am 11.07.2022.