Nutzer:innenbasiertes Kreuzungsdesign in den Niederlanden am Beispiel Alexanderplein

Der Alexanderplein liegt im östlichen Zentrum von Amsterdam. Bis 2016 handelte es sich um einen vierarmigen, lichtsignalgeregelten Knotenpunkt, der durchaus eine hohe verkehrliche Bedeutung und entsprechende Auslastung hatte. Rad- und Kfz-Verkehr sowie mehrere Tramlinien verkehren über diesen innerstädtischen Knoten. Dies alles hat sich im Wesentlichen auch nicht geändert – mit Ausnahme der Lichtsignalanlage. Diese wurde 2016 zunächst für eine Testphase und anschließend permanent abgeschaltet. 

Ziel war es, den Verkehrsfluss des stetig wachsenden Radverkehrs zu verbessern. Der Radverkehr ist gegenüber Brems- und Anfahrvorgängen aufgrund der fehlenden Motorisierung generell besonders empfindlich. In den Niederlanden im Speziellen wird diese Empfindlichkeit verschärft, da viele Fahrräder traditionell über keine Gangschaltung verfügen. Das führt dazu, dass niederländische Radfahrer:innen ein Anhalten möglichst vermeiden möchten. Dadurch kam es z.B. am Alexanderplein auch zu vermehrten Rotlichtverstößen, sofern die verkehrliche Situation die Fahrt über die Kreuzung zuließ. 

Das Fehlverhalten von Verkehrsteilnehmer:innen wurde in diesem Fall nicht durch verschärfte Kontrollen geahndet, sondern durch eine nutzer:innenzentrierte Lösung entschärft. Mit dem Abschalten der Lichtsignalanlage wurden Rotlichtverstöße durch Radfahrer:innen verhindert und den Verkehrsteilnehmer:innen das Befahren des Knotens unter Berücksichtigung der Vorfahrtregelung und der gegenseitigen Rücksichtnahme ermöglicht. Im Grunde genommen wurde damit der schon vorher so eingespielte Verkehrsfluss (Radverkehr befährt Knoten bei Rotlicht, wenn es die verkehrliche Situation zulässt) legalisiert, indem die rechtlichen Rahmenbedingungen den Nutzer:innen angepasst wurden. 

Das Ganze funktioniert in Amsterdam natürlich vor allem aufgrund der sehr hohen Radverkehrsmengen und des verhältnismäßig geringen Kfz-Verkehrsanteils an diesem Knotenpunkt. Hinzu kommt eine verstärkte gegenseitige Rücksichtnahme der Verkehrsteilnehmer:innen, da die meisten Niederländer:innen sowohl Auto als auch Rad fahren und daher beide Sichtweisen kennen. Das soll sicherlich kein Plädoyer dafür sein, Rotlichtverstöße zu begehen oder die Verkehrsregeln nicht mehr zu befolgen. Aber es zeigt dennoch sehr schön, wie Konfliktsituationen im Verkehr eben am Maßstab der Nutzer:innen und nicht am Maßstab von Regelwerken gelöst werden können. 

Dieser Fokus auf die Nutzer:innen wurde in Amsterdam auch in der Analyse der „Desire Lines“ gerichtet. Das durch die Copenhagenize Design Company [1] in Kopenhagen entwickelte Verfahren analysiert das Verhalten von Radfahrern und Radfahrerinnen an Knotenpunkten mittels Videoauswertung von Fahrwegen. Ziel ist es, das Verhalten von Radfahrenden und ihre Interaktion mit der Infrastruktur im Knotenpunkt zu verstehen und abzubilden. Die Trajektorien der Radfahrenden werden durch die Videoauswertung als Linien dargestellt. Damit ist erkennbar, wie und wo die Radfahrenden den Knoten befahren, welche Verhaltensweisen sich eingespielt haben und vor allem auch, wie viele Radfahrende sich so verhalten. Daraus kann abgeleitet werden, wie ein Kreuzungsdesign auf den Radverkehr wirkt und wie der Radfahrende dieses annimmt. Verschiedene Designs und Knotenpunktformen können so verglichen und bewertet werden. Es dient aber auch dazu, bestehende Kreuzungen zu optimieren und die „Desire Lines“ des Radverkehrs, z.B. Abkürzungen oder schnellere Abbiegebeziehungen, herzustellen oder zu verbessern.

In Amsterdam wurden 2014 insgesamt neun Kreuzungen mittels der Desire-Lines-Analyse untersucht. Dadurch wurde z.B. ersichtlich, dass viele Knotenpunkte eine zu geringe Aufstellfläche für wartende Radfahrende aufweisen. Daraufhin wurde eine Optimierung mittels kleiner infrastruktureller Maßnahmen entwickelt.

Ebenfalls ersichtlich wurden fehlende gute Fahr- oder Abbiegebeziehungen, z.B. wenn Radfahrende den Einrichtungsradweg in Gegenrichtung befahren. Mit der Erkenntnis über diese, bereits illegal eingespielten Verhaltensweisen kann die Infrastruktur nutzer:innenbasiert angepasst und optimiert werden. Denn – und das ist die eigentliche Erkenntnis, die in den Niederlanden schon weit verbreitet ist – das Fehlverhalten von Verkehrsteilnehmenden ist nicht immer auf die Person an sich zurückzuführen, sondern auch oft auf die bestehende, für das Verkehrsmittel nicht angepasste und ungeeignete Infrastruktur.

Diese Philosophie entspricht vielmehr dem Motto „Never change a running system“ – hier sogar im wahrsten Sinne des Wortes.

Übrigens: Die Anpassungen am Alexanderplein sowie die anschließende Fahrradstraße „Sarphatistraat“ sind Teil des „Binnenrings“, einem Ring um die historische Altstadt, der für Rad- und Fußverkehr sowie für ÖPNV vorgesehen ist. Mehr Infos zum Binnenring findest du hier: https://www.amsterdam.nl/projecten/binnenring/

[1] https://copenhagenize.eu/desire-lines-dybbolsgade, abgerufen am 11.10.2021